London am 8. Mai 1945: Die Menschen feiern das Ende des Zweiten Weltkriegs. bild: reddit
Die etwas andere Kulturgeschichte des Schweizer Historikers Urs Bitterli ist da. Darin verschmelzt er die Geschichte des 20. Jahrhunderts mit seiner Literatur.
Die lebendige Erinnerung an das Grauen des 20. Jahrhunderts stirbt mit den letzten Vertretern der Kriegsgeneration allmählich aus. Was bleibt, sind die Zeugnisse. Die Tagebücher, Romane und Essays der Überlebenden.
50 davon hat Urs Bitterli in seiner Kulturgeschichte «Licht und Schatten über Europa 1900–1945» wundervoll pointiert für uns zusammengefasst. 50 literarische Erzeugnisse, die zum Zeitpunkt ihres Erscheinens ein breites Publikum gefunden hatten. Und auf deren Zeilen der Geist dieser Zeit wandelt. Damit zeigt der Schweizer Historiker eindrücklich, was Literatur für das Verständnis von Geschichte zu leisten vermag.
Stefan Zweig versucht seinem Freund Josef Roth zu helfen – beim Schreiben und beim Bekämpfen der Trinksucht. Hier in Ostende, Belgien, 1936.
Bild: Hulton Archive
Da ist Erich Maria Remarques Roman «Im Westen nichts Neues» (1929), der endlich etwas Neues aus deutscher Feder auf den damaligen Büchermarkt brachte. Keine Rechtfertigungsschrift. Keine beschönigten Memoiren wie die von Politikern und hohen Militärs. Und ebenso wenig erfuhr der Soldat darin eine Heroisierung. Denn an diesem Krieg, in dem Remarque selbst kurz im Fronteinsatz stand, war nichts Heldenhaftes. «Wir kämpfen nicht, wir verteidigen uns vor der Vernichtung», sagt der noch nicht 20-jährige Protagonist Paul Bäumer. Und überall liegen die Toten. Die Halbtoten halten das heraustretende Gedärm mit ihren Händen zurück. Und irgendwo versucht einer mit zerschmetterten Gliedmassen davonzukriechen.
Einer der schönen Momente an der Westfront: Am Weihnachtsfrieden 1914 war es sogar möglich, dass deutsche Soldaten mit ihren britischen Feinden Fussball spielten. Das Bild ist symbolisch; es zeigt schottische und englische Soldaten. bild: bundeswehr lexikon
Er wolle weder anklagen noch bekennen, schreibt Remarque in seiner Vorrede:
Erich Maria Remarque
Einer dieser Zerstörten war Joseph Roth. Er verlor im Ersten Weltkrieg seine alte Heimat, die österreichisch-ungarische Monarchie, die für ihn wie ein grosses Haus gewesen war, «mit vielen Türen und Zimmern für viele Arten von Menschen».
Aus dem Krieg kam die verzwergte Republik Österreich heraus und Roths Zuhause, das ostgalizische Brody, ging an Polen. Die royalen Prunkfeste waren verrauscht und er blieb allein mit der traurigen Gewissheit zurück, dass sich mit Hitler ein neuer Krieg anbahnte. An Stefan Zweig schrieb er im Februar 1933:
Joseph Roth
Dann brannten die Bücher des Juden im grossen Feuer der Nazis. Und Roth floh in seine Vergangenheit, liess die Doppelmonarchie in seinem «Radetzkymarsch» (1932) noch einmal in ihrer ganzen Pracht auferstehen: Mitten drin steht Kaiser Franz Joseph, ein neunzigjähriger Patriarch, gütig und ganz Tradition. Er sieht in seinem Reich die Sonne untergehen, aber er sagt nichts. Weil er weiss, dass er vor ihrem Untergang sterben wird.
Das Begräbnis von Kaiser Franz Joseph I. am 30. November 1916. Im Radetzkymarsch lässt Roth den polnischen Graf Chojnicki sagen: «Sobald unser Kaiser die Augen schliesst, zerfallen wir in hundert Stücke.»
bild: bildarchivaustria
Bitterli schreibt: «Roths Roman gehört zu den bedeutendsten Monumenten, die je ein Schriftsteller dem Andenken an eine entschwundene Epoche errichtet hat.» Es ist die Geschichte einer für immer verlorenen Liebe zu einem Vaterland, die Roth ermöglichte, «ein Patriot und Weltbürger zugleich zu sein, ein Österreicher und ein Deutscher unter allen österreichischen Völkern.»
Josef Roth war nur einer dieser Zerrissenen, die der Erste Weltkrieg ausgespuckt hatte. Wie Hesses «Steppenwolf» (1927) irrten viele dieser verwirrten Seelen umher und suchten nach den Werten, die der Krieg zerfetzt hatte. Sie litten an der Zeit und an sich selbst. Moderne Barbaren.
Jean-Paul Sarte, «Der Ekel»
In Sartres «Der Ekel» (1938) versucht Antoine Roquentin nicht mehr, verloren gegangenen bürgerlichen Konventionen und Wertvorstellungen Sinn zu verleihen. Als er im Museum von Bouville die Galerie der alten Männer anschaut, die sich um die Stadt verdient gemacht hatten mit ihren ordentlichen und geplanten Leben, sagt er: «Lebt wohl, ihr schönen Lilien, unser Stolz und unsere Daseinsberechtigung, lebt wohl ihr Schweine.»
Er sieht sich als zufällig in die Welt geworfen. Und er beginnt zu ahnen, dass seine Existenz vollkommen grundlos ist. Er könnte ebenso gut nicht da sein. Einen Sinn kann Roquentin aus dem schlichten Einfach-so-da-Sein also nicht ableiten. An diesem Nullpunkt angelangt, frei, weil nichts Äusseres ihn mehr bestimmt, ist ein Neuanfang möglich. Er muss sich selbst neu erfinden.
Simone de Beauvoir und Jean-Paul Sartre, 1929.
Auch die Deutschen hatten nach dem Ersten Weltkrieg ihren Nullpunkt erreicht. Und in Hitler sah man gemeinhin den Retter, der sie für den Schmachfrieden von Versailles entschädigen würde. Der englische Philosoph Bertrand Russell formulierte das so:
Betrand Russell, 1935
28. Juni 1919: Alle wollen sehen, wie die Deutschen unter Protest den verhängnisvollen Friedensvertrag in der Spiegelgalerie des Schlosses von Versailles unterschreiben. bild: getty images
In seinem Buch «Which Way to Peace» (1936) versuchte er dennoch, einen Weg zu zeichnen, wie dem bevorstehenden Krieg auszuweichen wäre. Denn dieser Krieg würde mit den modernsten Mitteln geführt werden und dabei das ganze zivile Leben vernichten. Die sich bekämpfenden Ideologien, der Faschismus und der Kommunismus, würden dabei aber nicht getroffen.
Abzurüsten sei der einzig gangbare Weg zum Frieden. Dies sei aber nur möglich, wenn gesellschaftliche Reformen die soziale Ungerechtigkeit beseitigten, kriegswichtige Rohstoffe müssten unter internationale Kontrolle gebracht werden, um nicht für militärische Zwecke missbraucht zu werden. Und die Grenzen sollten geöffnet werden, um die internationalen Kontakte zu erleichtern und rassistische Vorurteile abzubauen.
Leider blieb dies der Wunschtraum eines Pazifisten, der sich von der Mathematik abwandte und zur Philosophie wechselte, «um eine Weltanschauung zu finden, die das menschliche Leben erträglich macht.»
Russell sollte Recht behalten: Insgesamt starben durch den Atombombenabwurf auf Hiroshima bis 1946 90'000 bis 166'000 Menschen. bild: ap
Der holländische Historiker Johan Huizinga war bereits ein Jahr zuvor desillusioniert. In seiner Schrift «Im Schatten von morgen» (1935) stellt er fest, dass die ethischen Kräfte dem rapiden Fortschritt heillos hinterherhinken und mythische Vorstellungen Eingang in die deutsche Wissenschaft gefunden haben. Nämlich dort, wo man von der Reinheit des Blutes redet, um daraus eine Bürgertugend zu machen. Der Prozess der Barbarisierung ist für ihn bereits unaufhaltbar vorangeschritten; der Mythos habe den Logos verdrängt. Es bleibt ihm nur noch, all seine Hoffnungen in die kommende Generation zu legen:
Johan Huizinga, «Im Schatten von morgen», 1935
«Aus dem Gesicht spricht die Seele der Rasse»: Aus dem Lehrbuch von Alfred Vogel, «Erblehre, Abstammungs- und Rassenkunde in bildlicher Darstellung», 1938. bild: museumköln
Der unerschütterliche Glaube, dass der Geist Frankreichs an der deutschen Besetzung nicht zerbreche, lebt in Jean Marcel Brullers Erzählung «Das Schweigen des Meeres» (1942), die er unter dem Pseudonym Vercors im Untergrundverlag Éditions de Miniut herausgab. Ein kleines französisches Dorf wird darin von der Wehrmacht eingenommen. Der Offizier Werner von Ebrennac wird in einem Haus einquartiert, dessen Bewohner, ein alter Mann und seine Nichte, kein Wort mit ihm sprechen, obwohl er stets freundlich und der französischen Kultur zugetan ist. Von diesem Schweigen nun handelt die ganze Geschichte. Es ist das Schweigen zweier Menschen einer besiegten Nation, die damit ihre Würde wahren. Irgendwann reist der Offizier für bestimmte Zeit nach Paris und verabschiedet sich mit den Worten:
Vercors, «Das Schweigen des Meeres», 1942
Wachablösung der Wehrmacht auf der Champs-Élysées 1940. Im Hintergrund ist der Arc de Triomphe zu sehen. bild: lelivrescolaire
Aber als er ins Dorf zurückkehrt, erzählt er dem alten Mann und seiner Nichte von der bitteren Enttäuschung. Sein Jugendfreund sei zum radikalen Nazi geworden. Und gemeinhin betrachte man Frankreich als minderwertiges Untertanenland. Er habe darum um eine Versetzung gebeten, die ihm gewährt worden sei. Und als er schon in der Tür steht, dreht er sich noch einmal zur Nichte des alten Mannes um. «Adieu», sagt er. Und sie schauen sich lange in die Augen, bis auch das Mädchen ihre Lippen bewegt: «Adieu».
1944 wird der italienische Jude Primo Levi mit 24 Jahren nach Auschwitz deportiert. Er kriegt die Nummer 174 517 und kommt als Zwangsarbeiter in die Buna-Werke von Auschwitz-Monowitz, in denen synthetischer Kautschuk hergestellt werden soll.
Am 27. Januar 1945 wurden die verbliebenen Häftlinge durch sowjetische Truppen der 322. Infanteriedivision der I. Ukrainischen Front befreit. Bild: AP PAP CAF
Primo Levi, «Ist das ein Mensch?», 1961
Alles wird bestimmt vom Daseinskampf und von diesem will Levi erzählen. Einen Gott gibt es nicht mehr, einzig die Geschichte kann sein Zeugnis festhalten und ihm damit die Gewissheit geben, dass kein menschliches Erleben ohne Sinn ist. Dafür hat er «Ist das ein Mensch?» (1961) geschrieben.
Die junge Hannah Arendt, selbstverständlich mit Zigarette. bild: 102distribution
Am 11. April 1961 beginnt in Jerusalem der Strafprozess gegen den Mann, der für die systematische Ermordung von sechs Millionen Juden verantwortlich ist. Hannah Arendt sitzt im Saal und fasst ihre Gedanken in erweiterter Form in «Eichmann in Jerusalem. Ein Bericht von der Banalität des Bösen» (1963) zusammen, für die sie jede Menge Kritik einfährt. Sie beschreibt ihn, wie er da sitzt in seinem Glaskäfig, dieser unscheinbare Mann. Banal, wie irgendein Beamter. Irgendein folgsamer Empfänger von Weisungen.
Adolf Eichmann während seines Prozesses im Glaskäfig, flankiert von Polizisten. Er wurde zum Tode verurteilt und in der Nacht vom 31. Mai auf den 1. Juni 1962 durch den Strang hingerichtet. Bild: AP USHMM
Nur galten seine Weisungen der Vernichtung des jüdischen Volkes. Und dieses himmelschreiende Verbrechen wurde zur nationalsozialistischen Routine:
Hannah Arendt, «Eichmann in Jerusalem. Ein Bericht von der Banalität des Bösen», 1963